„Sprichst du deutsch?“, werde ich nach der ersten Seminarsitzung angesprochen. Es ist Roi, ein Israeli, der an der Hebräischen Universität im Master für Jüdische Studien eingeschrieben ist. Wir treffen uns im Seminar „Hellenistic Judaism“ bei Professorin Maren Niehoff, die eine Koryphäe auf diesem Gebiet ist. Es stellt sich heraus, dass Roi im Sommer einen Intensivsprachkurs Deutsch absolviert hat. Nach meinem eigenen Iwrit-Sprachkurs direkt in den ersten sechs Wochen in Israel kann ich mir nur zu gut vorstellen, wie viel Arbeit und Zeit er wohl ins Lernen investiert haben muss. Um im Deutschen fit zu bleiben, ist er auf der Suche nach einem:r Tandempartner:in. Da ich selbst in einer WG mit einem weiteren Deutschen lebe, ergreife ich die Gelegenheit, mein Alltagshebräisch zu verbessern. Wir stellen fest, dass wir uns beide nach dem Kurs am späten Nachmittag nach Hause begeben, in der gleichen Gegend wohnen und auch beide gerne spazieren gehen. So ergeben sich zahlreiche Gespräche auf dem Nachhauseweg von der Uni – immer eine halbe Stunde auf Deutsch und danach eine halbe Stunde auf Hebräisch.
Unsere Gespräche handeln häufig von unseren Hauptinteressen, den frühjüdischen und den frühchristlichen Schriften: Roi untersucht paulinische Schriften, um die Gemeinde- und Gesellschaftsstrukturen in Alexandria besser verstehen zu können. Ich lerne Talmud und eigne mir das Handwerkszeug an, um mir die Quellen selbständig erschließen zu können. Neben Diskussionen zu Gebetszeiten, Gebetshaltungen und Gebetstexten (Berachot 4) im Wintersemester, widme ich mich im Sommersemester Exilsregelungen sämtlicher Couleur (Makkot 2). Wenn ich die Leiter mit einem Gegenstand in der Hand hochsteige und mir dieser Gegenstand herunterfällt und ich damit aus Versehen jemanden erschlage, darf ich dann der Todesstrafe für einen Mord entgehen und ins Exil flüchten? Was ist, wenn ich die Leiter heruntersteige, und mir passiert das gleiche? Hätte ich da nicht vorsichtiger sein müssen, da ein Abstieg immer Gefahren birgt? Ich finde großen Gefallen am talmudisch-logischen Denken mit seinen zahlreichen Fall-Beispielen.
Roi bleibt für mich das ganze Jahr über ein wichtiger Bezugspunkt, auch bei manchen Schwierigkeiten im Alltag. Als es Probleme mit meinem Arnona-Antrag gibt (Arnona ist die Wohnsteuer, die alle Menschen, die in Jerusalem wohnen, zahlen müssen) hilft er mir und ruft für mich bei der Stadtverwaltung an. Mit der israelischen Bürokratie – sei es bei der Einreise während eines Corona-Lockdowns oder der Visums-Verlängerung – lerne ich zugleich eine wichtige Lektion fürs Leben: יהיה בסדר. Es wird schon gutgehen, es wird schon werden. Über das Jahr eigne ich mir darüber einige Gelassenheit an. Am Ende wird es tatsächlich immer. Zwar nicht immer auf dem offiziellen Weg, aber es gibt genügend Schlupflöcher, die von allen Menschen selbstverständlich genutzt werden. Ich finde Gefallen an der Haltung der israelischen חוצפה, der (aus meiner Perspektive als Deutsche übersetzten) „lebenstüchtigen Dreistigkeit“.
Roi ist immer wieder erstaunt, mit was für einem vielseitigen Programm ich in Israel unterwegs bin: Eine Exkursion in Richtung Norden Israels, bei der wir uns tagsüber mit der Entwicklung der Synagogenbauten im 1. bis 6. Jahrhundert befassen und unter anderem am See Genezareth übernachten. Und eine Exkursion in den Süden, bei der wir tagsüber Nabatäer-Stätten entdecken und nachts in der Wüste unter freiem Himmel schlafen. Es ist immer etwas los, immer wieder komme ich mit neuen Informationen und Fragen auf Roi zu.
Auch die Vortragsabende und Blockseminare genieße ich sehr. Wann werde ich schon wieder die Gelegenheit bekommen, so vielen Menschen mit so vielen unterschiedlichen Positionen zu begegnen?
Studium in Israel ist dabei ein Türöffner. Ins griechisch-orthodoxe Patriarchat wäre ich wohl sonst nie gekommen. Zugleich inspirieren auch die Ideen anderer aus der Gruppe: Eines meiner Highlights in den Semesterferien ist das Schnorcheln im Roten Meer.
Das Jahr nutze ich, neben meinem Faible für Archäologie-Kurse und Exkursionen „zu alten Steinen“, intensiv für das Eintauchen in verschiedene jüdische Strömungen. Oft bin ich in der reformierten Synagoge Kehilat Har-El zu Gast, in der ich fast jeden Gottesdienst am Schabbatabend verbringe. Heimisch werde ich in der Erlöserkirche, der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache. Neben zahlreichen Angeboten genieße ich vor allem das Kirchenkaffee, bei dem ich immer wieder mit sehr verschiedenen Menschen ins Gespräch kommen kann. Mit manchen von dort, habe ich heute noch Kontakt – eine Frau, die schon seit sehr langer Zeit in Israel-Palästina lebt, hatte ich sehr ins Herz geschlossen. Sie hat mir, als ich schon wieder in Deutschland war, einen selbstgemachten Adventskalender geschickt.
Was bleibt mir aus Israel, außer dem Adventskalender? Die Erinnerungen an viele Begegnungen, die meine Haltung im christlich-jüdischen Dialog geprägt und meinen Horizont erweitert haben. Meine differenziertere Sicht auf den Nahost-Konflikt samt seinen zahlreichen Narrativen. Den Blick über den Tellerrand der Theologie hinausgeworfen zu haben.
Unter anderem ist auch die Freundschaft mit Roi geblieben, mit dem ich mich weiterhin einmal in der Woche unterhalte – immer eine halbe Stunde auf Deutsch und danach eine halbe Stunde auf Hebräisch.
(von Clara Neurath aus Jahrgang 44, 2021/22)