Das Heißwassergerät war schwer umlagert. Wie eigentlich immer in Israel nach einer Veranstaltung. Jede und jeder will einen Tee oder einen Instantkaffee oder ein Wasser. So natürlich auch nach dem Sonntagsgottesdienst der Erlöserkirche in Jerusalem. Nur dass es an nicht ganz so vielen Orten – selbst hier in Jerusalem nicht – so anheimelnd geschichtsträchtig ist, wie im Kreuzgang der Deutschen Lutherischen Gemeinde.
Da vorn im Gespräch, der Charakterkopf, das ist Dr. Michael Krupp. Ziemlich genau vor 34 Jahren hatte ich ein Gespräch mit ihm, ließ mich als junger Theologiestudent über die Möglichkeiten informieren, für ein oder zwei Semester in Jerusalem zu studieren. Damals hatte sich das zerschlagen. Dann der Schock des Berufsanfangs, Familie, Stellenwechsel und und und … Aber der Traum war geblieben: in Jerusalem von jüdischen Lehrern jüdische Bibelauslegung zu lernen. Viel brauchte Dr. Volker Haarmann also nicht anzustoßen, als er mich ansprach. Ich hatte wohl etwas verträumt mit dem Flyer von Studium in Israel in der Hand dagestanden. Die familiären, dienstlichen und auch die finanziellen Möglichkeiten ließen sich klären. Zu meinem ursprünglichen Interesse kam der Wunsch hinzu, von Muttersprachlern Jiddisch zu lernen und mit ihnen Jiddisch zu reden, wie auch die Absicht, das Leben in diesem Land mehr als nur bei einem kurzen Urlaubs- oder Freizeitbesuch zu erleben.
Nun bin ich hier. Und diese Begegnungen in einer Gemeinde, die es schafft, bei einer Ausrichtung auf Menschen, die zum größten Teil auf eine begrenzte Zeit zu ihr gehören, wirklich “Gemeinde” zu werden, bei der so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl, ja vielleicht so etwas wie “Gemeinde-Heimat” entsteht, beeindruckt mich.
Durch den Suk gehe ich nach Hause in das alte Klostergebäude “Ratisbonne” gleich oberhalb der Fußgängerzone in der Neustadt. Bei Humus, Fladenbrot und dann bei dem leckeren Eiskaffee, sehe ich, wie ein jugendlicher Charedi einem weltlich gekleideten Imbissbudenbesitzer zeigt, wie man zum Mittagsgebet Gebets-Riemen und – Kästchen anlegt. Zur Belohnung trinkt der Jugendliche genüsslich eine Cola. Ich lebe in einer Stadt, in der öffentliches Gebet in jedem Wortsinn geübt wird.
Heute Nachmittag muss ich noch die Lektüre des Jiddischen Lesekreises vorbereiten. Das Niveau ist hoch, das Dozentenpaar und die anderen Teilnehmer sind mir freundlich und zunächst skeptisch begegnet. Die Skepsis gegenüber dem deutschen Jiddisch-Schüler war aber schnell überwunden. Hier und anderswo schloss die Bereitschaft zu hören und zu lernen Menschen für mich auf.
Das war so bei den meisten Begegnungen. Sie ziehen vor meinem inneren Auge vorbei, wie die immer neuen Ansichten in dem Kaleidoskop, das ich am Freitag auf dem Kunsthandwerkermarkt gekauft habe. Bei jeder Drehung des Handgelenks setzen sich die Glasscherben mit einem leisen “Klack” neu zusammen:
Klack: Die Freitagabendgottesdienste in der Synagoge im Bunker, wo die Gemeinde so herzergreifend singt: nach dem Empfang des Sabbats werden die Stühle zur Seite geräumt und alle tanzen vor Sabbat-Freude “Let’s go!”… Hier sprach einen Kollegen aus Westfalen und mich beim Konzert zum Unabhängigkeitstagein alter Mann an. Zum ersten Mal seit dem Holocaust sprach er wieder deutsch und ehrte uns mit dieser Anrede …
Klack: Das Midrasch-Seminar zusammen mit den Studierenden: ein Halbvers aus der Kain- und – Abel – Geschichte, mehrere Abende lang. Und das wirklich spannend!
Klack: Die Exkursionen: wissenschaftlich geführt durch die biblischen Zeiten. Den Prozessionsschritt spüren auf den gleichen Stufen, mit dem die Israeliten zum Tempel aufstiegen. Am alten Jahwe-Altar in Arad stehen… Klack…Klack…Klack.
Klack: Die kleine, energische Rabbinerin, die immer auf die Zehenspitzen steigen musste, wenn sie etwas besonders betonen wollte. Ihre Auslegung des Buches Rut war so erfrischend neu. Sie stand oft auf den Zehenspitzen… Die Freundlichkeit in der Diskussion mit den amerikanischen Ehepaaren bei dem Lektürekurs eines mittelalterlichen jüdischen Bibelkommentators. Die Entdeckung: beim Toralernen kommt es nicht auf die richtigen Antworten, sondern auf das kluge Fragen an.
Klack: Die Ausflüge mit dem westfälischen Kollegen im öffentlichen Bus nach Hebron. Auf der anderen Seite die palästinensische Realität. Kaum auszuhaltende Spannungen. Die Fahrt in Bus und Taxi mit der Familie, die zu Besuch war, nach Jericho. In Jerusalem, hier und da noch ein T-Shirt mit der Aufschrift “3.000 Jahre Jerusalem” ; in Jericho, die Mitarbeiter der Altertumsbehörde mit der T-Shirtaufschrift: “Jericho 10.000 Jahre”… Die frischen, noch stinkenden Brandspuren an dem Wachtturm bei Ramallah…
Und das Kaleidoskop macht weiter Klack, Klack, Klack…
Wenn sie mich zu Hause fragen, was kann ich sagen?
Die vielen, vielen kürzeren oder längeren Begegnungen mit beeindruckenden Menschen, Martin Vahrenhorst, die Studierenden, die Dozenten, die Zimmernachbarn, die freundliche Verkäuferin im Supermarkt mit ihrem immer gelächelten: “Shalom lekha” …
Wenn es wieder “heiß” wird in Jerusalem, bin ich nicht schlauer, aber alles geht mir mehr “an die Nieren”, ist irgendwie näher gerückt.
Mein Bibelverständnis hat eine neue tiefere, tragende Dimension hinzugewonnen, die mich weiter beschäftigt und ich übe mich darin Fragen zu stellen. Meine Glaubenssprache ist reicher geworden.
Mein Jiddisch hat sich gebessert. Und zum ersten Mal hat mir diese Sprache zu Begegnungen verholfen, die mir nur so möglich waren, weil ich kein Ivrith kann und viele Orthodoxe nur Ivrith und Jiddisch.
… ach, kuckt doch einfach ins Kaleidoskop hier!
(von Pfarrer Thomas Kleiner aus Düsseldorf, Studienaufenthalt von März bis Juni 2013)