Israel hat seit über einem Jahr seine Grenzen geschlossen, als ich mich auf den Weg mache. Im Jahr 2021 beherrscht ein Virus die Welt und die Reisemodalitäten. Meine bürokratischen Höchstleistungen führen mich bis zu einer spontanen Nachtzugfahrt nach Berlin zur israelischen Botschaft. Der Einsatz lohnt sich. Am Ende schaffen es alle vierzehn Teilnehmer meines Kurses rechtzeitig nach Jerusalem.
Dort dekretiert man uns mit viel Selbstbewusstsein, aber wenig Konsequenz in leere Studentenappartements, bis wir zwei Wochen abgesessen oder uns serologisch frei getestet haben. Der Besuch in dem denkwürdigen Medizinlabor wird meine erste selbständige Amtshandlung auf hebräisch.
In die Weiten dieser anziehenden Stadt entlassen, begeben sich einige sogleich in ihre Wohnungen, während meinesgleichen noch einige Monate hin und her ziehen, bevor sie sesshaft werden.
Eine kleine deutsche Dreierwohnung auf dem Ölberg wird meine Bleibe. Auch wenn ich kein arabisch spreche, weiß ich unsre palästinensische Vermieterfamilie und mit ihr die ganze Nachbarschaft auf meiner Seite und bin als Alman bald wohlbekannt.
Vom palästinensischen Kosmos laufe ich am deutschen Kosmos der Himmelfahrtkirche vorbei, um den israelischen Kosmos der Universität zu erreichen. Nur zehn Minuten Fußweg trennt diese Welten, die so schmerzlich voneinander abstehen.
Von der Universität schaut man hinunter in die jordanische Wüste oder auf die Altstadt. Dort ist der höchste Turm ein deutscher und gehört zur lutherischen Erlöserkirche, meinem sonntäglichen Heimathafen in diesem Jahr. Weite Teile der deutschen Blase Jerusalems kommen hier zusammen, wobei die meisten der Gemeinde nur auf Zeit angehören. Doch gibt es hier von Orgelmusik über Abendmahl bis hin zu Kirchkaffee, Gemeindeabenden und einer Spitzenkantorei alles, was mich auftanken lässt.
Spätestens im zweiten Semester bin ich auch in zwei jüdischen Chören gelandet, wo man ebenfalls Bach, Schubert und christliche Klassiker singt – sogar in Synagogen! Dazu ein paar hebräische Psalmen und als Nervenkitzel die Uraufführung einer Neuvertonung vom Hohen Lied Salomos. Durch die Proben wird mir der hebräische Text so geläufig, dass ich ihn überall wiederentdecke, sogar im Radio.
Die Beschallung in meinem Viertel übernimmt jedoch grundsätzlich der Chor aus Muezzinen, die stimmlich bessere und schlechtere Tage kennen, je in ihrer eigenen Zeitzählung verbleiben und stets miteinander dissonieren. Gleichzeitig hüllen sie die Stadt in eine religiöse, selbstvergessene Schwebung. Als Kontrapunkt läuten auf dem Ölberg die Glocken der evangelischen Himmelfahrtkirche.
Diese charakteristische Vielstimmigkeit setzt sich nicht nur im Talmudstudium, sondern im ganzen Begleitprogramm von Studium in Israel e. V. fort. Im Wochentakt begegnen wir verschiedensten Vertreterinnen oder Vertretern der religiösen Strömungen im Land. Manche klingen mir noch Wochen später in den Ohren; manche erfüllen mich mit der dankbaren Gewissheit, dass auch stille, friedfertige Leute hier ihren Samen säen.
In den Ferien ist die beste Zeit, sich das Land zu erschließen. Die Nord- und Südexkursion des Vereins führen einen an Orte, die man sonst schwer erreicht. Dazu entdecke ich den Israel-Nationalwanderweg für mich und schmecke im Grün zwischen den Betonbahnen etwas von der wilden Schönheit des arg zersiedelten Landes. Das Wandern ist eher eine deutsche als ein israelisches Feriengestaltung. Die Wege sind leer und an den Rastplätzen drücken mir die Israelis mit großen Augen ihre Anerkennung aus..
Ich kann dagegen meinen Augen nicht trauen, als mir auf einem steilen Wanderweg zehn Ultraorthodoxe in zwei schwarzen Geländewagen begegnen, die mit ihren Gefährten eine haarsträubende Kletterpartie an den Tag legen. Nur einer von vielen Eindrücken, die andeuten, was in diesem Land alles möglich ist.
(von Johannes Jühlke aus Jahrgang 44, 2021/22)